Inannas Abstieg in die Unterwelt

Inanna steigt in die Unterwelt herab, muss dabei die Insignien ihrer Macht abgeben und wird schließlich zum Tode verurteilt. Um wieder aus der Unterwelt herauszukommen, muß sie einen Stellvertreter benennen, der an ihrer Stelle in die Unterwelt geht.

Sie entscheidet sich für denjenigen, der nicht um sie trauerte: ihren Mann Dumuzi.



Visuelle Darstellung des Mythos 'Inannas Abstieg in die Unterwelt'. Inanna betritt den Thronsal der Unterwelt, wo Ereschkigal, die Herrscherin der Unterwelt, sie erwartet. Hinter Ereschkigal stehen die sieben Richter der Unterwelt.

Dieser Mythos spielt zu Lebzeiten Dumuzis. Dumuzi war laut der sumerischen Königsliste ein vorsintflutlicher König und Hirte des Volkes. die Sintflut wurde in Sumer anhand von Ablagerungen auf etwa 2900 v. Chr. datiert. Die Handlung des Mythos kann daher auf die Zeit davor datiert werden. Andererseits kann der Mythos nicht älter sein, als die Städte Nippur (um 4000 v. Chr. gegründet), Ur (um 4000 v. Chr. gegründet), Uruk (um 4000 v. Chr. gegründet) und Eridu (um 5400 v. Chr. gegründet). Da im Mythos explizit betont wird, dass Inanna ihren Tempel in Uruk verlassen hatte, kann angenommen werden, dass ihr vorübergehender Tod mit einer Katastrophe in Uruk zusammenfällt, vermutlich mit der Sintflut, die auf 2900 v. Chr. datiert worden ist.

Um eine möglichst vollständige Version zu erhalten, wurde der folgende Text aus der Übersetzungen von D. Wolkenstein und S. N. Kramer mit anderen Übersetzungen kombiniert. Zur Verbesserung der Lesbarkeit wurde er in Prosa verfasst, einige Wiederholungen wurden weggelassen, und die Wortwahl wurde zum Teil geändert. Fehlende Stellen wurden sinnvoll ergänzt.

Übersetzung

Vorbereitung des Abstiegs

Vom großen Oben aus richtete Inanna, die Göttin, ihre Gedanken auf das große Unten. Inanna, meine Herrin, verließ den Himmel, verließ die Erde und stieg in die Unterwelt hinab. In Uruk und Kish verließ sie ihre Tempel, um in die Unterwelt hinabzusteigen. Auch ihre Tempel in Badtibira, Zabalam, Adab, Nippur und Akkad verließ sie, um in die Unterwelt hinabzusteigen.

Sie nahm die sieben göttlichen Kräfte mit. Sie sammelte die göttlichen Kräfte und nahm sie in ihre Hand. Mit den göttlichen Kräften in ihrem Besitz, bereitete sie sich vor: Sie setzte die Shugurra, die Krone für das offene Land, auf ihr Haupt. Sie ordnete die dunklen Haarsträhnen auf ihrer Stirn. Sie band die kleinen Lapisperlen um ihren Hals. Sie ließ den doppelten Perlenstrang auf ihre Brust fallen und wickelte das königliche Gewand um ihren Körper. Sie betupfte ihre Augen mit einer Salbe, die "Lass den Mann kommen, lass ihn kommen" heißt. Sie band sich die Brustplatte mit der Aufschrift "Komm, Mann, komm!" um die Brust, streifte den goldenen Ring über ihr Handgelenk und nahm die Messstab und die Schnur aus Lapis in die Hand.

Inanna brach auf in die Unterwelt. Ninschubur, ihre treue Dienerin, ging mit ihr. Inanna sprach zu ihr und sagte:

"Komm, meine treue Dienerin von E-ana, dem Tempel von Uruk. Ninschubur, meine Stütze, mein Sukkal, ich werde dir Anweisungen geben: Sie müssen befolgt werden.

Ich werde an diesem Tag in die Unterwelt hinabsteigen. Wenn ich in der Unterwelt angekommen bin, sollst du auf den Ruinenhügeln ein Klagelied für mich anstimmen. Schlag die Trommel für mich im Heiligtum. Mache für mich die Runde durch die Häuser der Götter.

Zerkratze deine Augen, deinen Mund und deine Schenkel. Kleide dich wie ein Bettler in ein einziges Kleidungsstück und gehe nach Nippur, zum Tempel des Enlil. Wenn du den Tempel des Enlil betreten hast, klage vor ihm:

'Oh, Vater Enlil, lass nicht zu, dass deine Tochter in der Unterwelt zu Tode kommt. Lass nicht zu, dass dein glänzendes Silber in der Unterwelt mit Staub bedeckt wird. Lass nicht zu, dass dein kostbarer Lapislazuli dort mit dem Stein des Maurers gespalten wird. Lass nicht zu, dass dein duftender Buchsbaum zu Holz für den Holzarbeiter zerschnitten wird. Lass nicht zu, dass die junge Frau, die heilige Inanna, in der Unterwelt zu Tode kommt.'

Wenn Enlil dir nicht helfen will, geh nach Ur, zum Tempel des Nanna. Weint vor Vater Nanna. Wenn Nanna dir nicht helfen will, geh nach Eridu, zum Tempel des Enki. Weint vor Vater Enki. Vater Enki, der Gott der Weisheit, kennt die lebensspendende Nahrung, er kennt das lebensspendende Wasser, er kennt das Geheimnis des Lebens. Sicherlich wird er mich nicht sterben lassen."

Inanna ging weiter auf ihrem Weg in die Unterwelt. Dann hielt sie an und sagte:

"Geh jetzt, Ninschubur - vergiss nicht, was ich dir befohlen habe."

Eintritt in die Unterwelt

Als Inanna an den äußeren Toren der Unterwelt ankam, klopfte sie laut an. Sie rief mit lauter Stimme:

"Mach auf, Torwächter, mach auf. Mach auf, Neti, mach auf. Ich bin ganz allein und möchte eintreten."

Neti, der oberste Torwächter der Unterwelt, antwortete der heiligen Inanna:

"Wer bist du?"

Sie antwortete:

"Ich bin Inanna, Königin des Himmels, auf dem Weg in den Osten."

Neti sagte:

"Wenn du Inanna bist, die in den Osten geht, warum bist du dann in das Land ohne Wiederkehr gereist? Warum hat dich dein Herz auf die Straße geführt, von der kein Reisender zurückkehrt?"

Die heilige Inanna antwortete ihm:

"Weil Fürst Gugalanna, der Gatte meiner älteren Schwester, der heiligen Ereshkigal, gestorben ist. Damit seine Begräbnisriten eingehalten werden, bietet sie großzügige Trankopfer bei seiner Totenwache an - das ist der Grund."

Neti, der oberste Torwächter der Unterwelt, antwortete der heiligen Inanna:

"Bleib hier, Inanna. Ich werde mit meiner Herrin sprechen. Ich werde mit meiner Herrin Ereshkigal sprechen. Ich werde ihr deine Botschaft überbringen."

Neti, der oberste Torwächter der Unterwelt, betrat das Haus seiner Herrin Ereshkigal und sagte:

"Meine Herrin, draußen steht ein Mädchen. Es ist Inanna, deine Schwester. Sie ist im Palast Ganzer angekommen. Sie klopfte laut an. Sie rief mit lauter Stimme und bat um Einlaß. Sie hat E-ana im Stich gelassen und kam um in die Unterwelt hinabzusteigen.

Sie hat die sieben göttlichen Kräfte mitgenommen. Sie hat die göttlichen Kräfte gesammelt und sie in ihrer Hand gehalten. Sie hat sich mit all den guten göttlichen Kräften auf den Weg gemacht. Auf ihrem Haupt trägt sie die Schurgarra, die Krone für das offene Land. Über ihrer Stirn sind die dunklen Haarsträhnen sorgfältig geordnet. Um ihren Hals trägt sie die kleinen Lapisperlen. Sie trägt an der Brust trägt den doppelten Perlenstrang. Ihr Körper ist in das königliche Gewand gehüllt. Ihre Augen sind mit der Salbe "Lass den Mann kommen, lass ihn kommen" beträufelt. Um ihre Brust trägt sie die Brustplatte mit der Aufschrift "Komm, Mann, komm!". Sie trägt an ihrem Handgelenk den Goldring. In der Hand trägt sie den Messstab und die Schnur aus Lapis."

Als Ereshkigal das hörte, klopfte sie ihr auf ihre Schenkel und biss sich auf die Lippen. Sie nahm sich die Worte zu Herzen und dachte darüber nach. Sie sagte zu Neti, ihrem obersten Torwächter:

"Komm Neti, mein oberster Torwächter der Unterwelt, befolge die Anweisungen, die ich dir geben werde. Verriegle die sieben Tore der Unterwelt. Dann soll jedes Tor des Palastes Ganzer einzeln geöffnet werden. Lass Inanna eintreten. Wenn sie eintritt, lasse sie ihre königlichen Gewänder ablegen. Wenn sie hineingegangen ist, werden sie weggetragen."

Neti, der oberste Türsteher der Unterwelt, befolgte die Anweisungen seiner Herrin. Er verriegelte die sieben Tore der Unterwelt. Dann öffnete er das äußere Tor. Er sagte zur heiligen Inanna:

"Komm, Inanna, und tritt ein."

Und als Inanna eintrat, wurde die Schurgarra, die Krone für das offene Land, von ihrem Kopf genommen. Inanna fragte:

"Was soll das?"

Neti antwortete ihr:

"Sei still, Inanna, die Riten der Unterwelt sind vollkommen. Sie dürfen nicht in Frage gestellt werden."

Als sie das zweite Tor betrat, wurden ihr die kleinen Lapislazuli-Perlen vom Hals genommen. Als sie das dritte Tor betrat, wurde ihr der doppelte Perlenstrang von der Brust genommen. Als sie das vierte Tor betrat, wurde die Brustplatte mit der Aufschrift "Komm, Mann, komm" von der Brust genommen. Als sie das fünfte Tor betrat, wurde ihr der goldene Ring vom Handgelenk genommen. Als sie das sechste Tor betrat, wurden ihr der Lapislazuli-Messstab und die Messschnur aus der Hand genommen. Als sie das siebte Tor betrat, wurde ihr das königliche Gewand vom Körper genommen. Nachdem sie ihre Kleider ausgezogen hatte, wurden sie weggetragen.

Nackt betrat Inanna den Thronsaal. Ereshkigal erhob sich von ihrem Thron. Inanna schritt auf ihn zu. Die Annuna, die sieben Richter der Unterwelt, umringten sie. Sie sprachen ein Urteil über sie. Sie sahen sie an - es war der Blick des Todes. Sie sprachen zu ihr - es war die Rede des Zorns. Sie schrien sie an - es war der Schrei der schweren Schuld. Die geplagte Frau wurde in einen Leichnam verwandelt. Und der Leichnam wurde an einen Haken gehängt.

Das Ersuchen Ninschuburs

Als Inanna nach drei Tagen und drei Nächten nicht zurückgekehrt ist, führte Ninschubur die Anweisungen ihrer Herrin aus. Ninschubur stimmte bei den Ruinen ein Klagelied für sie an. Sie schlug die Trommel für sie im Heiligtum. Sie machte für sie die Runde durch die Häuser der Götter. Sie zerkratzte sich die Augen, Mund und Oberschenkel. Sie kleidete sich in ein einziges Kleidungsstück wie eine Bettlerin. Allein machte sie sich auf den Weg nach Nippur und zum Tempel des Enlil. Als sie das heilige Heiligtum betrat, klagte sie vor Enlil:

"Oh, Vater Enlil, lass nicht zu, dass deine Tochter in der Unterwelt zu Tode kommt. Lass nicht zu, dass dein glänzendes Silber in der Unterwelt mit Staub bedeckt wird. Lass nicht zu, dass dein kostbarer Lapislazuli dort mit dem Stein des Maurers gespalten wird. Lass nicht zu, dass dein duftender Buchsbaum zu Holz für den Holzarbeiter zerschnitten wird. Lass nicht zu, dass die junge Frau, die heilige Inanna, in der Unterwelt zu Tode kommt."

Vater Enlil antwortete zornig:

"Meine Tochter sehnte sich nach dem großen Himmel und sie sehnte sich nach der großen Unterwelt. Die göttlichen Kräfte der Unterwelt sind göttliche Kräfte, die man nicht begehren sollte, denn wer sie bekommt, muss in der Unterwelt bleiben. Wer, der dorthin gelangt ist, könnte dann erwarten, wieder nach oben zu kommen?"

Vater Enlil wollte nicht helfen. Ninschubur ging nach Ur und zum Tempel des Nanna. Als sie das heilige Heiligtum betrat, klagte sie vor Nanna mit den gleichen Worten. Doch auch Nanna wollte nicht helfen. Ninshubur ging nach Eridu, zum Tempel des Enki. Als sie den heiligen Schrein betrat, klagte sie an:

"Oh, Vater Enki, lass nicht zu, dass deine Tochter in der Unterwelt zu Tode kommt. Lass nicht zu, dass dein glänzendes Silber in der Unterwelt mit Staub bedeckt wird. Lass nicht zu, dass dein kostbarer Lapislazuli dort mit dem Stein des Maurers gespalten wird. Lass nicht zu, dass dein duftender Buchsbaum zu Holz für den Holzarbeiter zerschnitten wird. Lass nicht zu, dass die junge Frau, die heilige Inanna in der Unterwelt zu Tode kommt."

Vater Enki antwortete Ninschubur:

"Was ist geschehen? Was hat meine Tochter getan? Inanna, die Herrin über alle Länder! Heilige Priesterin des Himmels! Was ist geschehen? Ich bin beunruhigt, ich bin betrübt."

Enki half Inanna. Er entfernte etwas Schmutz von der Spitze seines Fingernagels und erschuf die Kur-Jara. Er entfernte etwas Schmutz von der Spitze seines anderen Fingernagels und schuf den Gala-Tura. Dem Kur-Jara gab er die lebensspendende Pflanze. Dem Gala-Tura gab er das lebensspendende Wasser.

Dann sprach Vater Enki zu dem Gala-Tura und dem Kur-Jara:

"Geht in die Unterwelt, schwirrt am Tor vorbei wie Fliegen, schlüpft durch die Türzapfen wie Gespenster. Ereshkigal, die Königin der Unterwelt, stöhnt mit den Schreien einer Frau, die kurz vor der Entbindung steht. Kein Leinen bedeckt ihre heiligen Schultern, ihre Brüste sind entblößt. Ihr Haar ist gebündelt wie Lauch. Wenn sie dort liegt und stöhnt, dann stöhnt mit ihr. Die Königin wird erfreut sein. Sie wird dann fragen: 'Wer seid ihr? Wenn ihr Götter seid, dann lasst mich mit euch sprechen. Wenn ihr Sterbliche seid, dann möge euch ein Schicksal beschieden sein. ' Lass sie dies bei Himmel und Erde schwören. Sie wird euch ein Geschenk machen. Bittet sie nur um den Leichnam, der an dem Haken an der Wand hängt. Einer von euch wird die lebensspendende Nahrung darauf streuen, der andere wird das lebensspendende Wasser darauf ausgießen. Inanna wird auferstehen."

Die Rettung Inannas

Der Gala-Tura und der Kur-Jara befolgten die Anweisungen Enkis. Sie schwirrten durch das Tor wie Fliegen. Wie Gespenster schlüpften sie durch die Türzapfen und erreichten den Thronsal. Die gebärende Ereshkigal lag dort und schrie. Kein Leinen bedeckte ihre heiligen Schultern, ihre Brüste waren entblößt. Ihr Haar war gebündelt wie Lauch. Als Ereshkigal stöhnte, stöhnten der Gala-Tura und der Kur-Jara mit ihr [und nahmen ihr dadurch die Schmerzen]. Ereshkigal hielt inne. Sie sah sie an. Sie fragte:

"Wer seid ihr, die ihr mit mir stöhnt - ächzt - seufzt? Wenn ihr Götter seid, werde ich euch segnen. Wenn ihr Sterbliche seid, werde ich euch ein Geschenk machen."

Sie ließen sie dies bei Himmel und Erde schwören. Sie bat ihnen einen Fluss mit seinem Wasser an - sie nahmen es nicht an. Sie bot ihnen ein Feld mit seinem Getreide an - sie nahmen es nicht an. Sie sagten zu ihr:

"Wir wünschen uns nur den Leichnam, der an dem Haken an der Wand hängt."

Die heilige Ereshkigal antwortete dem Gala-Tura und dem Kur-Jara:

"Der Leichnam ist der von Inanna."

Sie sagten zu ihr:

"Auch wenn es der unseres Königs oder der unserer Königin wäre. Er ist es, was wir wünschen."

Man gab ihnen den Leichnam, der an einem Haken hing. Der Kur-Jara bestreute ihn mit der lebensspendenden Nahrung, der Gala-Tura übergoss ihn mit dem lebensspendenden Wasser, und so erhob sich Inanna. Inanna war im Begriff, aus der Unterwelt aufzusteigen, als die Annuna, die Richter der Unterwelt, sie ergriffen. Sie sagten:

"Wer ist jemals aus der Unterwelt aufgestiegen, ist unversehrt aus der Unterwelt aufgestiegen? Wenn Inanna aus der Unterwelt zurückkehren will, muss sie jemanden an ihrer Stelle stellen."

Als Inanna die Unterwelt verließ, hielt derjenige, der vor ihr ging, obwohl er kein Minister war, ein Zepter in der Hand. Derjenige, der hinter ihr ging, obwohl er kein Begleiter war, trug einen Streitkolben an seiner Hüfte, während sich die Galla, die kleinen Dämonen der Unterwelt, sie begleiteten.

Die Galla sind Dämonen, die kein Essen und kein Trinken kennen, die keine Opfergaben essen und keine Trankopfer trinken und keine Geschenke annehmen. Sie genießen kein Liebesspiel. Sie haben keine süßen Kinder zum Küssen. Sie reißen die Frau aus den Armen des Mannes, sie reißen das Kind von den Knien des Vaters, sie stehlen die Braut aus ihrem ehelichen Heim. Sie nehmen das Kind weg, das an den Brüsten einer Amme hängt. Die Dämonen, so groß wie Schilfrohre, klammerten sich an Inanna.

Inannas Suche nach einem Stellvertreter

Ninschubur, gekleidet in ein schmutziges Sackleinen, wartete vor dem Tor der Unterwelt. Als sie Inanna von den Galla umringt sah, warf sie sich zu Inannas Füßen in den Staub. Die Galla sprachen:

"Geh weiter Inanna, wir werden Ninschubur an deiner Stelle nehmen."

Inanna rief:

"Nein! Ninshubur ist meine ständige Stütze. Sie ist mein Sukkal, der mir weise Ratschläge gibt. Sie ist meine Kriegerin, die an meiner Seite kämpft. Sie hat meine Worte nicht vergessen. Sie hat bei den Ruinen ein Klagelied für mich angestimmt. Sie schlug die Trommel für mich auf den Versammlungsplätzen. Sie umkreiste die Häuser der Götter. Sie riss an ihren Augen, an ihrem Mund, an ihren Schenkeln. Sie kleidete sich in ein einziges Kleidungsstück wie eine Bettlerin. Alleine machte sie sich auf den Weg nach Nippur, zum Tempel des Enlil. Sie ging nach Ur, zum Tempel des Nanna. Sie ging nach Eridu, zum Tempel des Enki. Durch sie wurde mein Leben gerettet. Ich werde dir Ninshubur niemals geben."

Die Galla sagten:

"Geh weiter, Inanna, wir werden dich nach Umma begleiten."

In Umma, am heiligen Schrein, war Schara, der Sohn der Inanna, in ein schmutziges Sackleinen gekleidet. Als er Inanna umringt von den Galla sah, warf er sich zu ihren Füßen in den Staub. Die Galla sagte:

"Geh weiter in deine Stadt, Inanna, wir werden Shara an deiner Stelle nehmen."

Inanna schrie:

"Nein! Nicht Schara! Er ist mein Sohn, der mir Hymnen singt. Er ist mein Sohn, der mir die Nägel schneidet und mein Haar glättet. Ich werde Shara niemals an euch abgeben."

Die Galla sagte:

"Geh weiter, Inanna, wir werden dich nach Badtibira begleiten."

In Badtibira, am heiligen Schrein, war Lulal, der Sohn der Inanna, in ein schmutziges Sackleinen gekleidet. Als er Inanna von den Galla umringt sah, warf er sich zu ihren Füßen in den Staub. Die Galla sagten:

"Geh weiter, Inanna, wir werden Lulal an deiner Stelle nehmen."

Inanna rief:

"Nein, nicht Lulal. Er ist mein Sohn. Er ist ein Anführer unter den Menschen. Er ist mein rechter Arm. Er ist mein linker Arm. Ich werde dir Lulal niemals geben."

Der Galla sagte:

"Geh weiter in deine Stadt, Inanna. Wir werden mit dir zum großen Apfelbaum in Uruk gehen."

Dort war Dumuzi, der Gatte der Inanna, in ein prächtiges Gewand gekleidet. Er saß auf seinem prächtigen Thron und spielte auf seiner Flöte. Als Inanna dies sah, wurde sie wütend. Inanna sah ihn an, es war der Blick des Todes. Sie sprach zu ihm, es war die Rede des Zorns. Sie schrie ihn an:

"Wie lange noch? Bringt ihn weg. Bringt Dumuzi weg!"

Die heilige Inanna übergab Dumuzi, den Hirten, in die Hände der Galla. Die Dämonen packten ihn an seinen Schenkeln. Sieben von ihnen gossen die Milch aus seinen Kannen. Sie zerbrachen die Rohrflöte, auf der der Hirte spielte. Dumuzid stieß einen Schrei aus und wurde ganz blass. Er hob seine Hände zum Himmel, zu Utu:

"Utu, du bist mein Schwager, ich bin der Ehemann deiner Schwester. Ich habe Butter in das Haus deiner Mutter gebracht. Ich habe Milch in Ningals Haus gebracht. Utu, du, der du ein gerechter Gott bist, ein barmherziger Gott, verwandle meine Hände in die Hände einer Schlange. Verwandle meine Füße in die Füße einer Schlange. Lass mich meinen Dämonen entkommen, lass sie mich nicht festhalten."

Der barmherzige Utu nahm die Tränen des Dumuzi an. Er verwandelte die Hände von Dumuzi in Schlangenhände. Er verwandelte die Füße von Dumuzi in Schlangenfüße. Dumuzi floh vor den Dämonen. Sie konnten ihn nicht festhalten.

Als die heilige Inanna sich wieder besann, weinte sie bitterlich um ihren Mann. Sie riss an ihrem Haar wie Espartogras, sie riss es aus wie Espartogras. Sie schrie:

"Ihr Frauen, die ihr in der Umarmung eurer Männer liegt, wo ist mein kostbarer Mann? Ihr Kinder, die ihr in der Umarmung eurer Eltern liegt, wo ist mein kostbares Kind? Wo ist mein Mann? Wo? "

Eine Fliege sprach zur heiligen Inanna:

"Wenn ich dir zeige, wo dein Mann ist, was wird mein Lohn sein?"

Die heilige Inanna antwortete der Fliege:

"Wenn du mir zeigst, wo mein Mann ist, werde ich dir ein Geschenk machen."

Die Fliege half der heiligen Inanna. Die junge Dame Inanna bestimmte das Schicksal der Fliege:

"In der Bierstube und in der Taverne möge es immer Essen für dich geben. Du wirst leben wie die Söhne der Weisen."

Nun verfügte Inanna dieses Schicksal und so geschah es auch. Inanna fand Dumuzi. Doch noch immer musste sie jemanden bestimmen, der an ihrer Stelle in die Unterwelt geht. Dumuzis Schwester Geshtinanna meldete sich freiwillig, an seiner Stelle zu gehen. Und so wurde beschlossen, dass Dumuzi die Hälfte des Jahres in der Unterwelt und Geshtinanna die andere Hälfte verbringen soll. Dann verfügte die heilige Inanna die Schicksale von Dumuzi und Geshtinanna:

"Du, Dumuzi, wirst die eine Hälfte des Jahres und deine Schwester die andere Hälfte des Jahres in der Unterwelt verbringen. Du wirst an dem Tag, den du bestimmt, auferstehen. Deine Schwester wird an dem Tag, den sie bestimmt, auferstehen."

Und so übergab Inanna, die Reine, Dumuzi als ihren Stellvertreter.

Interpretation

Der Grund, weshalb Inanna in die Unterwelt hinabstieg, dürfte Neugierde gewesen sein. Sie ist als furchtlose Frau bekannt, die sich nicht von Konventionen abschrecken lässt.

Sie nahm die Insignien ihrer Macht mit in die Unterwelt, da sie sich von ihnen Schutz versprach. Ereshkigal, die Königin der Unterwelt, erfuhr davon und ersann eine List, ihr diese Insignien abzunehmen und zu stehlen. Die Insignien waren daher nicht ihr Schutz, sondern ihr Verhängnis.

In der Unterwelt wurde Inanna zum Tode verurteilt. Um wieder aus der Unterwelt herauszukommen, musste sie einen Stellvertreter ernennen, der an ihrer Stelle in die Unterwelt geht. Sie wählte denjenigen als ihren Stellvertreter aus, der nicht um sie trauerte: ihren Mann Dumuzi. Später bereute sie die Entscheidung und revidierte sie in sofern, als Dumuzi nur für eine Hälfte des Jahres in die Unterwelt gehen mußte, während seine Schwester Geshtinanna die andere Hälfte des Jahres dort verbringt. Da Dumuzi als Gott der Vegetation und Geshtinanna als Göttin der Weinreben angesehen werden kann, wird vermutet, dass hiermit die Jahreszeiten erklärt werden sollen.

Der Absatz in dem Inanna ihre Tempel verlässt, unterscheidet sich von Version zu Version und dürfte nachträglich eingefügt worden sein.