Enlil und Ninlil

Der Mythos von Enlil und Ninlil scheint eine der ersten sumerischen Mythen gewesen zu sein. Der Mythos beschreibt, wie Enlil seine spätere Frau Ninlil kennenlernt, sie als Göttin der Fruchtbarkeit etabliert, und sie mit dem späteren Gott Nanna schwängert.

Die Handlung spielt zu einer Zeit, als die Städte noch kleine Siedlungen waren und der Bau von Kanälen zu Bewässerung noch nicht in größerem Maßstab begonnen hatte, also um etwa 4500 v. Chr.

Die Tontafeln, die den sumerischen Mythos von "Enlil und Ninlil" enthalten, stammen überwiegend aus der altbabylonischen Zeit, also etwa aus dem Zeitraum von 2000 bis 1600 v. Chr.



Visuelle Darstellung des Mythos 'Enlil und Ninlil'. Ninlil badet im Kanal vor den Toren der sumerischen Stadt Nippur als Enlil sie erblickt und sich in sie verliebt. Das Bild zeigt den Moment in dem er sie das erste Mal anspricht.

Übersetzung

Einleitung

Es gab eine Stadt, es gab eine Stadt, die, in der wir leben.
Nippur war die Stadt, die Stadt, in der wir leben.
Dur-jicnimbar war die Stadt, die Stadt, in der wir leben.

Id-sala ist ihr heiliger Fluss, Kar-jectina ist ihr Kai.
Kar-asar ist der Kai, an dem die Boote festmachen.
Pu-lal ist ihr Süßwasserbrunnen.
Nunbirdu ist sein verzweigter Kanal,
und wenn man ihn ausmisst,
beträgt sein Ackerland 50 sar in jede Richtung.

Enlil war einer ihrer jungen Männer.
Ninlil war eine ihrer jungen Frauen.
Nisaba war eine der weisen alten Frauen.

Enlil beeinflusst Ninlil

In jenen Tagen beriet die Mutter, die das Mädchen Ninlil zur Welt gebracht hatte, ihre Tochter. Nisaba beriet Ninlil:

"Der Kanal ist heilig, Tochter! Der Kanal ist rein - bade nicht in ihm! Ninlil, geh nicht am Ufer des Kanals Nunbirdu entlang! Sein Auge ist hell, das Auge des Herrn ist hell, er wird dich ansehen! Der starke Fels, Vater Enlil - sein Auge ist hell, er wird dich ansehen! Der Hirte, der Entscheider - sein Auge ist hell, er wird dich ansehen! Sofort wird er Geschlechtsverkehr haben wollen, er wird dich küssen wollen! Er wird sich freuen, lustvollen Samen in den Schoß zu gießen, und dann wird er dich ihm überlassen!"

Sie beriet sie von Herzen, sie gab ihr Weisheit.

Dennoch badete Ninlil in diesem reinen Kanal. Sie war im Begriff, an das Ufer des Nunbirdu zurückzugehen. Als Ninlil an das Ufer des Nunbirdu zurückging, leuchteten seine Augen. Die Augen Enlils leuchteten. Er schaute sie an. Der starke Fels, Vater Enlil, schaute sie mit leuchtenden Augen an. Der Hirte, der Entscheider, schaute sie mit leuchtenden Augen an. Er sagte zu ihr:

"Lass mich mit dir schlafen!"

Doch er konnte sie nicht dazu bringen, zuzustimmen. Enlil sagte zu ihr:

"Lass mich dich küssen!"

Doch er konnte sie damit nicht zum Einverständnis bringen. Ninlil antwortete:

"Meine Vagina ist klein, sie kennt keine Schwangerschaft.
Meine Lippen sind jung, sie kennen das Küssen nicht.
Wenn meine Mutter davon erfährt, wird sie mich ohrfeigen!
Wenn mein Vater es erfährt, wird er Hand an mich legen!
Das ewige Haus, dessen Urteil tiefgründig ist,
wird mich zur Rechenschaft ziehen!"

Als Enlil dies hörte, beschloss er es zu ändern. Er beauftragte seinen fähigen Minister Nuska mit den Vorbereitungen. Nuska arbeitete unermüdlich daran. So geschah es, dass Winde (die die Macht Enlils symbolisieren) im E-Kur aufzogen.

"Reine Jungfrau, gewinne an Reife und Anziehungskraft.
Ninlil, gewinne an Reife und Anziehungskraft."

Er (Enlil) vollendete das Aussprechen dieser wichtigen Worte, er selbst vollendete es.

Enlil trifft Ninlil

Vater Enlil schwamm stromabwärts auf Ninlil zu. Er wollte tatsächlich mit ihr verkehren, er wollte sie tatsächlich küssen! Er ergriff sie, die, die er suchte. Er sollte tatsächlich mit ihr verkehren, er sollte sie tatsächlich küssen!

Er kam mit ihr auf einer kleinen Sandbank zu liegen. Als er sie umarmte, hielt er ihre Hände und folgte dem Drang, ihre Lippen zu küssen. Sie ihrerseits legte sich neben ihn auf den Po und die kleine feuchte Stelle. Er folgte dem Drang, diese Liebe zu machen, folgte dem Drang, diese Lippen zu küssen, und bei seinem ersten Liebemachen, bei seinem ersten Kuss, schüttete er ihr den Samen, den Keim von Suen, dem Mondgott, dem hellen einsamen göttlichen Reisenden, in den Schoß!

Enlil wird bestraft

Enlil ging im Ki-ur umher. Als Enlil im Ki-ur umherging, ließen die fünfzig großen Götter und die sieben Götter, die über die Geschicke entscheiden, Enlil im Ki-ur festnehmen.

"Enlil, du hast die Riten verunreinigt, verlasse die Stadt! Herr, der du Schicksale verfügen kannst, du hast die Riten der Götter durcheinander gebracht, verlasse die Stadt!"

Enlil, gemäß dem, was beschlossen worden war, Nunamnir, gemäß dem, was beschlossen worden war, ging. Ninlil folgte. Nunamnir ging, die junge Frau folgte ihm.

Am Stadttor

Er führte Ninlil zum Wächter des Stadttores. Enlil sprach zu dem Wächter des Stadttores:

"Stadttorwächter! Hüter der Schranke! Pförtner! Hüter der heiligen Schranke! Wenn deine Herrin Ninlil kommt und nach mir fragt, dann sag ihr nicht, wohin ich gegangen bin!"

Ninlil wandte sich an den Stadttorwächter:

"Stadttorwächter! Hüter der Schranke! Pförtner! Hüter der heiligen Schranke! Wo ist Enlil, dein Herr, hingegangen?"

Enlil ließ den Mann am Stadttor antworten:

"Mein Herr hat sich nicht herabgelassen, mit mir Höflichkeiten auszutauschen. Enlil hat sich nicht herabgelassen, mit mir Höflichkeiten auszutauschen!"

Ninlil antwortete:

"Ich werde mein Ziel deutlich machen und meine Absicht erklären. Auch du kannst meinen Schoß füllen. Enlil, Herr aller Länder, hat mit mir geschlafen! So wie Enlil dein Herr ist, so bin ich deine Herrin!"

Der Stadttorwächter antwortete:

"Und du bist meine Herrin. Lass meine Hand deine Genitialien berühren!"

Ninlil sagte:

"Ein Spermium, dein zukünftiger Meister,

ein glänzendes Spermium, ist in meinem Schoß.

Ein Same, Keim von Suen dem Mondgott,

ein glänzender Same ist in meinem Schoß!"

Der Stadttorwächter antwortete:

"Der Same meines Herrn kann bis in den Himmel aufsteigen! Lasst meinen Samen unten bleiben! Lasst meinen Samen unten bleiben, anstelle des Samens meines Meisters!"

Der Torwächter der Stadt, brachte sie dazu, sich in der Kammer hinzulegen. Dort verkehrte er mit ihr, dort küsste er sie. Bei diesem einen Beischlaf, bei diesem einen Kuss goss er den Samen von Nergal, dem Herrn des Meslam, in ihren Schoß.

Enlil ging. Ninlil folgte. Nunamnir ging, die junge Frau folgte ihm.

Am Fluss zur Unterwelt

Enlil führte Ninlil zum Mann von Id-kura, dem großen Fluss der Unterwelt, dem menschenfressenden Fluss. So wie Ninlil zuvor mit dem Stadttorwächter verkehrte, so verkehrte sie auch jetzt mit ihm. Bei diesem einen Beischlaf, bei diesem einen Kuss goss er den Samen von Ninazu, dem Besitzer des Tempelanwesens Egida (in Enegi), in ihren Schoß .

Enlil ging. Ninlil folgte. Nunamnir ging, die junge Frau folgte ihm.

Am Fährboot

Enlil führte Ninlil zu Siluigi, dem Mann des Fährbootes. So wie Ninlil zuvor mit Enlil in Gestalt des Mannes von Id-kura verkehrte, so verkehrte sie auch jetzt mit ihm. Bei diesem einen Beischlaf, bei diesem einen Kuss goss er den Samen von Enbilulu, dem Aufseher des Kanalbaus, in ihren Schoß.

Lobpreisung Enlils

Enlil, du bist der Herr! Du bist König! Nunamnir, du bist der Herr! Du bist König! Du bist der oberste Herr, du bist der mächtigste Herr, dessen Aussprüche überhaupt nicht verändert werden können, dessen ursprüngliche Äußerungen nicht verändert werden können! Für das glorreiche Schicksal, das du für Ninlil, die Mutter, ausersehen hast, seist du gepriesen, Vater Enlil!

Interpretation

Der Mythos ist deutlich komplexer, als es auf den ersten Blick erscheint. Er kann wie folgt zusammengefasst werden:

In der Zeit, als die Götter Menschen waren und nur wenige Menschen die Städte bevölkerten, lebte Enlil als junger Mann in Nippur. Enlil war der schönen Ninlil verfallen. Ninlil, obwohl sie ihm nicht abgeneigt war, folgte dem Rat ihrer Eltern und lehnte Enlil wegen ihrer Unerfahrenheit und Jugend ab. Enlil missbrauchte dann mit Hilfe seines Ministers Nuska seine Macht und verlieh ihr mehr Reife und Anziehungskraft. Dies erlaubte ihm, einvernehmlichen Sex mit Ninlil zu haben und sie mit Nanna, dem späteren Mondgott, zu schwängern.

Da Enlil seine Macht missbraucht hatte, als er die Riten der Götter durcheinandergebracht hatte, musste er zur Strafe Nippur verlassen und die Unterwelt aufsuchen. Ninlil folgte ihm in einiger Entfernung. Mit allen Männern, mit denen Enlil auf seinem Weg gesprochen hatte, kam Ninlil daraufhin zusammen. Hierbei wurden Nergal, Ninazu und Enbilulu gezeugt.

Zum Schluß des Mythos wird Enlil lobgepriesen als ein Gott, dessen Äußerungen nicht verändert werden können. Er wird dafür gelobt, Ninlil als Göttin der Fruchtbarkeit etabliert zu haben. Von besonderer Bedeutung ist dieser Mythos auch, weil in ihm der einflußreiche Mondgott Nanna gezeugt wird, der der Vater von Inanna und Utu ist.

Häufig wird in den Übersetzungen des Mythos die entscheidende Stelle, an der Enlil die Riten der Götter durcheinanderbrachte, indem er das Schicksal Ninlils abänderte, übersehen. Wahrscheinlich war er als junger Mann noch nicht dazu befugt, Schicksale zu verfügen. Vielleicht durfte er zwar Schicksale verfügen, aber nicht die Schicksale hochstehender Götter wie Ninlil. Da er es dennoch tat, sahen sich die übrigen Götter in ihrer Macht bedroht und verbannten ihn aus der Stadt.

Es ist unklar, ob er den Weg zur Unterwelt aus freien Stücken gegangen ist, oder ob er dahin verbannt werden sollte. Jedenfalls gelang es ihm, als er auf dem Weg dahin war, durch die Zeugung Nergals und Ninazus, seinen Einfluss auf die Unterwelt auszuweiten, weshalb er sie dann wohl doch nicht aufsuchen musste.

Als er am Fährboot ankam, war ihm vermutlich bereits klar, dass er es nicht mehr besteigen musste. Daher ließ er hier keinen weiteren Unterweltsgott zeugen, sondern Enbilulu, den er später mit der Überwachung des Kanalbaus beauftragen sollte.

Wie Ninlil es selbst betont hatte, war die Zeugung von Nergal, Ninazu und Enbilulu Teil eines strategischen Plans und diente nicht etwa der Befriedigung sexueller Bedürfnisse. Die Zeugung von Nergal, Ninazu und Enbilubu erlaubte es Enlil, seine Macht zu festigen.