Im Folgenden finden Sie eine Übersetzung des Teils von Platons Dialog Timaios, der das antike Athen und Atlantis beschreibt.
So will ich euch diese alte Geschichte erzählen, die ich von einem Mann gehört habe, der nicht mehr jung war. Kritias war, wie er sagte, damals fast neunzig Jahre alt, ich aber war etwa zehn. Es war der Knabentag der Apaturien, und was sonst an diesem Fest geschieht, geschah auch dieses Mal mit den Kindern: Die Väter verliehen uns Preise für das beste Aufsagen von Gedichten. Es wurden also viele Gedichte von vielen anderen Dichtern vorgetragen. Insbesondere aber trugen viele von uns Kindern Gedichte von Solon vor, denn diese waren damals noch etwas Neues.
Da sagte einer der Kameraden unseres Phratrie, entweder weil dies damals wirklich seine Meinung war, oder um Kritias etwas Angenehmes zu sagen, dass Solon ihm in allen anderen Dingen der weiseste aller Dichter zu sein schien, wie auch der edelste in der Dichtkunst. Der alte Mann Kritias war sehr erfreut und in meiner Gegenwart sagte er mit einem Lächeln:
"Wenn nur, Amynandros, er die Dichtkunst nicht nur als Nebensache betrieben hätte, sondern sich ihr wie andere mit ganzem Eifer gewidmet und die Geschichte, die er aus Ägypten mitbrachte, vollendet hätte und nicht durch die Unruhen und all die anderen Schäden, die er bei seiner Rückkehr hier vorfand, gezwungen gewesen wäre, sie aufzugeben, dann wären meiner Meinung nach weder Homer noch Hesiod noch irgendein anderer Dichter jemals berühmter geworden als er."
Amynandros, der Kamerad unseres Phratrie, fragte sodann:
"Aber was war das für eine Geschichte?"
Kritias antwortete:
"Ihr Gegenstand war die größte und zu Recht ruhmreichsten Tat, die diese Stadt je vollbracht hat, die aber aufgrund der langen Zeit und des Untergangs derer, die sie vollbracht haben, nicht überliefert ist."
Der andere bat ihn:
"Erzähle mir von Anfang an, was Solon wie erzählt hat und wer die Informanten waren, die für die Wahrheit bürgen"
Es gibt in Ägypten, sagte Kritias, in dem Delta, an dessen Spitze sich der Nil teilt, eine Region, die man die saïtische Region nennt, und die größte Stadt dieser Region ist Saïs, aus der auch König Amasis stammte. Die Einwohner halten für den Gründer ihrer Stadt eine Gottheit, deren Name auf Ägyptisch Neith, auf Griechisch aber, wie sie behaupten, Athene ist. Sie behaupten daher, große Freunde der Athener zu sein und in gewissem Maße mit ihnen verwandt.
Als Solon also dorthin kam, wurde er, wie er sagte, von ihnen mit Ehren überhäuft, und als er sich bei den Priestern, die sich am besten damit auskannten, über die Urzeit erkundigte, stellte er fest, dass weder er selbst noch irgendein anderer Grieche, man könnte fast sagen, auch nur irgendetwas über diese Dinge wusste.
Um sie zu veranlassen, ihm von der Urzeit zu erzählen, hatte er begonnen, ihnen die ältesten Geschichten Griechenlands zu erzählen, von Phoroneus, der als der erste Mensch gilt, und von Niobe, und wie nach der Sintflut Deukalion und Pyrra übrigblieben, und die Genealogie ihrer Nachkommen aufzuzählen. Auch hatte er versucht, die Zeiten zu datieren, indem er die Jahre angab, die auf jedes der Individuen, von denen er sprach, kamen.
Doch dann rief einer der Priester, ein sehr alter Mann, aus: "O Solon, Solon, ihr Hellenen bleibt doch immer Kinder. Einen alten Hellenen gibt es nicht!"
Als Solon dies hörte, fragte er: "Wie das? Was meinst du?"
Der Priester antwortete: Ihr seid alle jung im Geiste, denn ihr tragt weder eine Ansicht in eurem Kopf, die aus alter Tradition stammt, noch ein Wissen, das mit der Zeit grau geworden ist. Aber der Grund dafür ist folgender. Viele und verschiedene Katastrophen der Menschen haben schon stattgefunden und werden noch stattfinden, die meisten durch Feuer und Wasser, andere, geringere, aber durch unzählige andere Ursachen. Denn was auch bei euch erzählt wird, dass einst Phaethon, der Sohn des Helios, den Wagen seines Vaters bestieg und, weil er nicht in der Weise seines Vaters zu fahren wusste, alles auf der Erde verbrannte und selbst vom Blitz erschlagen wurde, klingt zwar wie eine Fabel, doch ist das Wahre daran die veränderte Bewegung der die Erde umkreisenden Himmelskörper und die Vernichtung von allem auf der Erde durch Feuer, was nach dem Ablauf großer Zeiträume hin und wieder eintritt.
Diejenigen, die auf den Bergen und in den hohen und wasserlosen Gegenden leben, werden davon mehr betroffen sein als die, die an den Flüssen und am Meer leben, und so wird uns der Nil, wie von allen anderen Nöten, auch von dieser erlösen. Wenn aber die Götter die Erde mit Wasser überschwemmen, um sie zu reinigen, dann werden die, die auf den Bergen leben, Hirten und Viehzüchter, verschont. Die aber, die in euren Städten leben, werden von den Flüssen ins Meer gespült, während bei uns weder dann noch sonst das Wasser vom Himmel auf die Felder herabfließt, sondern es ist so eingerichtet, dass es von unten her über sie hinaufsteigt. Deshalb und aus diesen Gründen bleibt alles bei uns erhalten und wird deshalb als das Älteste angesehen.
Es gibt in allen Gegenden, wo es nicht durch übermäßige Kälte oder Hitze verhindert wird, immer ein mal mehr, mal weniger zahlreiches Menschengeschlecht.
Bei uns aber wird alles, was in eurem Land oder in unserer Heimat oder in anderen Gegenden geschieht, wovon wir vom Hörensagen wissen, sofern es irgendwie etwas Hervorragendes oder Großes ist oder sonst eine Bedeutung hat, von alters her in den Tempeln aufgezeichnet und bleibt so erhalten. Ihr dagegen und die anderen Staaten, was die Schrift und alles andere betrifft, das zum Staatsleben gehört, seid immer eben erst etabliert. Ihr seid jung im Geiste weil stets nach Ablauf der üblichen Zeit die Regenflut vom Himmel wie eine Krankheit über euch hereinbricht und nur die Schriftunkundigen und Ungebildeten bei euch zurücklässt, so dass ihr gleichsam immer wieder jung werdet und in Unkenntnis der Ereignisse bei uns und bei euch bleibt, soweit sie in alten Zeiten stattgefunden haben.
Wenigstens unterscheiden sich eure gegenwärtigen Genealogien, wie ihr sie gerade durchgegangen seid, wenig von Kindermärchen. Denn erstens erinnerst du dich nur an eine einzige Überschwemmung der Erde, während es vorher so viele gab, und zweitens weißt du nicht, dass in deinem Lande das vorzüglichste und edelste Menschengeschlecht lebte, von dem du und alle Bürger deines jetzigen Staates abstammen, da einst ein kleiner Stamm von ihnen übrigblieb. Aber all das blieb dir verborgen, weil der Überrest sein ganzes Leben durch viele Generationen hindurch ohne die Sprache der Schrift verbrachte.
Einst, mein Solon, vor der größten Zerstörung durch das Wasser, war der Staat, der jetzt Athen heißt, der beste im Krieg und in jeder Hinsicht mit der vorzüglichsten Verfassung ausgestattet, denn ihm werden die ruhmreichsten Taten und öffentlichen Einrichtungen von allen unter der Sonne, deren Ruf wir vernommen haben, zugeschrieben. Als Solon dies hörte, sagte er, dass er erstaunt sei und bat die Priester, ihm die gesamte Geschichte der antiken Bürger seines Staates in genauer Reihenfolge wiederzugeben.
Der Priester antwortete: Ich will dir nichts vorenthalten, mein Solon, sondern dir alles sagen, sowohl dir als auch deinem Staat. Ich mache dies vor allem der Göttin zuliebe, die deinen und unseren Staat gleichermaßen als ihren eigenen angenommen und beide erzogen und geformt hat. Sie formte deinen Staat tausend Jahre früher (als unseren) aus dem Samen, den sie dafür von Ge (der Erdgöttin) und Hephästos erhalten hatte. Später formte sie den unseren auf dieselbe Weise. Aber die Zahl der Jahre seit der Gründung unseres Staates wird in unseren heiligen Büchern mit achttausend angegeben. Von euren Mitbürgern, die vor neuntausend Jahren entstanden sind, will ich euch jetzt kurz erzählen, wie sie beschaffen waren und was die herrlichste Tat war, die sie vollbracht haben. Aber die Einzelheiten von all dem werden wir zu einem anderen Zeitpunkt in aller Ruhe durchgehen, indem wir die Bücher in die Hand nehmen.
Macht euch nun eine Vorstellung von ihrer Verfassung durch Vergleich mit der unseren. Denn du wirst in dem, was bei uns noch der Fall ist, viele Muster dessen finden, was damals bei euch der Fall war: zuerst eine Priesterkaste, die von allen anderen getrennt ist, dann die der Handwerker, von denen wiederum jede Klasse für sich und nicht mit den anderen zusammen arbeitet, dazu die Hirten, Jäger und Bauern. Schließlich wirst du auch bemerkt haben, dass die Kriegerkaste in diesem Lande von allen anderen getrennt ist und dass ihr nichts anderes gesetzlich auferlegt ist als die Sorge für das Kriegswesen.
Ihre Bewaffnung besteht aus Speer und Schild, mit denen wir uns zuerst unter den Völkern Asiens ausrüsteten, wie die Göttin uns gelehrt hatte, so wie sie es auch euch zuerst in euren Gegenden lehrte. Was die Bildung des Geistes betrifft, so kannst du sehen, wie viel Aufmerksamkeit sie von Anfang an der kosmischen Ordnung gewidmet hat, indem sie alle Auswirkungen entdeckt hat, die die göttlichen Ursachen auf das menschliche Leben haben, von der Wahrsagerei bis zur Heilkunst und diejenigen auswählte, die für den Gebrauch der Menschen geeignet sind, und sich so alle diese Wissenschaften und alle anderen, die mit ihnen zusammenhängen, aneignete.
Nach all diesem Vorbereitungen gründete die Göttin zuerst euren Staat, indem sie den Ort eures Staates mit Rücksicht darauf auswählte, dass die dort herrschende glückliche Mischung der Jahreszeiten am besten geeignet war, Menschen mit Verstand hervorzubringen. Da die Göttin sowohl den Krieg als auch die Weisheit liebt, wählte sie den Ort, der am besten geeignet war, Menschen hervorzubringen, die ihr selbst am ähnlichsten waren, und gab ihm als erstes seine Bewohner. So lebte dein Staat dort im Besitz einer solchen Konstitution und vieler anderer vorzüglicher Anlagen und übertraf alle anderen Menschen in jeglicher Tugend und Tüchtigkeit, wie es von den Nachkommen und Schülern der Götter zu erwarten war.
Viele andere große Taten eures Staates lesen wir jetzt in unseren Schriften mit Bewunderung, aber von allen ragt eine durch ihre Größe und Kühnheit heraus. Denn unsere Bücher berichten von der gewaltigen Kriegsmacht, die euer Staat einst brach, als sie sich kühn vom atlantischen Meer aus ganz Europa und Asien zugleich näherte. Damals war das Meer dort schiffbar, denn vor der Mündung, die ihr in eurer Sprache die Säulen des Herakles nennt, befand sich eine Insel, die größer war als Asien und Libyen zusammen. Von ihr aus konnte man dann zu den anderen Inseln hinübergehen, und von den Inseln aus zum ganzen gegenüberliegenden Festland, das jenes Meer umschließt. Alles, was sich innerhalb der erwähnten Mündung (dem Mittelmeer) befindet, erscheint wie eine bloße Bucht mit schmalem Eingang, aber jenes Meer kann mit vollem Recht Meer und das Land, das es umgibt, kann mit vollem Recht Festland genannt werden.
Auf dieser Insel Atlantis herrschte nun ein großes und bewundernswertes Königtum, das nicht nur die gesamte Insel, sondern auch viele andere Inseln und Teile des Festlandes unter seiner Kontrolle hatte. Es herrschte auch über die innerhalb der Bucht liegenden Länder von Libyen bis nach Ägypten und Europa bis nach Tyrrhenien hin.
Indem sich all diese Macht in einer Armee vereinte, nahm sie sich vor, unser und euer Land und das gesamte Gebiet im Mündungsgebiet auf einen Schlag zu unterwerfen.
Damals, mein Solon, wurde die Macht deines Staates in ihrer ganzen Vortrefflichkeit und Stärke vor allen Menschen offenbart. Denn er übertraf alle anderen an Mut und Kriegskunst und führte zuerst die Hellenen an, dann aber war er durch den Abfall der anderen gezwungen, sich allein auf sich selbst zu verlassen. Als er so in die größte Gefahr geriet, besiegte er die Eindringlinge und stellte Zeichen des Sieges auf und verhinderte so die Unterwerfung der noch nicht Unterworfenen und stellte edel die Freiheit für die übrigen von uns wieder her, die innerhalb der herakleischen Grenzen wohnen.
Später jedoch traten heftige Erdbeben und Überschwemmungen auf, und während eines schlimmen Tages und einer schlimmen Nacht versank dein ganzes kriegerisches Volk in Scharen unter der Erde, und auch die Insel Atlantis verschwand, indem sie im Meer unterging. Deshalb ist das Meer dort jetzt unpassierbar und unfahrbar, weil der hoch aufgehäufte Schlamm, den die Insel durch ihr Versinken erzeugte, im Weg ist.