Ninurta und die Schildkröte
Der Mythos besteht aus zwei Tafeln. Die erste Tafel ist kaum lesbar, doch mithilfe der zweiten Tafel ließ sich ihr Inhalt, der unten wiedergegeben ist, teilweise rekonstruieren. Die zweite Tafel ist zwar gut erhalten, doch ihr verdichteter Stil macht sie schwer verständlich. Bei der Übersetzung unten wurde Wert auf eine gute Lesbarkeit gelegt. Eine wortgetreue Übersetzung des sumerischen Originaltextes finden Sie auf der Interpretations-Seite.
Bitte beachten Sie, dass in diesem Mythos tatsächlich gar keine Schildkröte vorkommt. Der Titel des Mythos ist auf einen Übersetzungsfehler des Erstübersetzers zurückzuführen.
Siehe auch
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- Interpretation
- Datierung
Beteiligte
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- Ninurta
- Enki
- Ninhursag
Ninurta und die Schildkröte
Tafel 1
In jener fernen Zeit, als die Erde noch jung war, war die Stadt Eridu das Herz der sumerischen Welt. Dort lag der Abzu, das Reich des Gottes Enki. Als Gott der Weisheit lehrte Enki die Menschen, wie sie ihre Zivilisation errichten sollten. An seiner Seite stand seine Gemahlin, die Göttin Ninhursag, die auch den Namen Ninmena trug. Ihre Aufgabe bestand darin, die Macht der Schicksalstafel zu festigen – jenes mächtigen Gegenstandes, der die Geschicke der Igigi-Götter zu lenken vermochte.
Während Ninmena im Himmel der Götter weilte, verweilte Enki auf der Erde. Der Vogel Anzu diente ihnen als Bote um Botschaften und Gegenstände zwischen den Welten zu überbringen. Doch eines schicksalhaften Tages, als Anzu die Schicksalstafel zwischen den Welten transportierte, nutzte er die Gelegenheit und stahl sie. Ninmena verzweifelte ob dieses Verlustes, und so wurde der tapfere Krieger Ninurta, selbst ein Igigi, ausgesandt, die Tafel zurückzuholen.
Ein gewaltiger Kampf entbrannte zwischen Ninurta und Anzu. Mit der Macht der gestohlenen Schicksalstafel täuschte Anzu den Krieger und wendete dessen eigene Waffe gegen ihn. Doch in diesem kritischen Moment griff Enki ein: Er ließ den Südwind aufkommen, der die tödliche Waffe von ihrer Bahn ablenkte. So konnte Ninurta den Anzu-Vogel schließlich überwältigen und brachte sowohl den Dieb als auch die kostbare Schicksalstafel zum Abzu zurück.
Tafel 2
Prolog
Enki wandte sich mit diesen Worten an Ninurta:
„Durch Anzus Worte wurde deine eigene Waffe gegen dich gerichtet. Doch nun ist die göttliche Kraft, die mir entrissen wurde, in den Abzu zurückgekehrt. Der heilige Gegenstand, den man mir stahl, ruht wieder an seinem Platz. Die Schicksalstafel ist heimgekehrt, und ich wache wieder über die göttliche Macht.“
Enki fuhr fort:
„Der junge Anzu-Vogel hatte dich mit List und Trug getäuscht und die Göttin Ninmena klagte ohne Unterlass: ‚Die göttliche Macht ist mir entglitten – ihre Herrschaft konnte ich nicht errichten. Eine göttliche Kraft wie sie gibt es kein zweites Mal im Heiligtum des Abzu.'“
Doch die Worte, die Vater Enki im Abzu an den Südwind richtete, fanden Gehör. Der Held Ninurta brachte den jungen Anzu-Vogel unter seine Kontrolle. Gemeinsam kehrten sie zu Enkis Reich, dem Abzu, zurück. Dank des Südwindes ist der junge Anzu Vogel zum Abzu zurückgekehrt.
Die Lobpreisung und Ninurtas neue Aufgabe
Der Herr war voller Freude über den Helden. Vater Enki jubelte über Ninurtas Taten. Der Schöpfergott verkündet wahres Lob:
„Held, keiner deiner göttlichen Brüder hat je vollbracht, was dir gelang. Mit deiner mächtigen Waffe hast du den Vogel bezwungen. Von diesem Tag an und bis ans Ende aller Zeiten soll dein Fuß auf seinem Nacken ruhen, zum Schutz der göttlichen Ordnung.“
Ninurta erhält den freien Willen
Enki sprach weiter:
„Die großen Götter sollen dich in deinem Heldenschicksal unterstützen und ihre göttlichen Kräfte für dich einsetzen. Dein Vater Enlil soll deinem Wort Gültigkeit verleihen. Ninmena aber soll keinen Einfluss mehr auf deinen heiligen Dienst haben. Kein anderer [Igigi] Gott soll dir an Ehrfurcht gleichkommen. Wenn du deinen Blick voller Kraft erhebst, soll dir niemand gewachsen sein. Einen Monat lang werde ich im Tempel des Abzu daran arbeiten, dass die Stärke deines Hauses neu begründet werde. An der Grenze des Himmels wird dein Name erstrahlen.“
Ninurtas Verzweiflung
So geschah es. Doch das Herz des Helden, dessen Schicksal gerade neu verfügt wird, konnte sich nicht freuen. In ihm stiegen die dunklen Wasser der Nacht empor und verweilten. Das Fundament seines Wesens, das so wichtig ist, begann sich zu wandeln. Seine ganze Persönlichkeit wurde ihm fremd und unvertraut. Die innere Stimme, die ihn stets geleitet hatte, war verstummt, während sein Mund rastlos weiterredete. Der große Held Ninurta senkte seinen Blick zu Boden. Niemand sprach mehr zu ihm, niemand gab seiner Seele Führung.
Ninurtas wahre Persönlichkeit
An jenem heiligen Ort, wo der große Herr Enki über Ninurtas Bewusstsein bestimmte, wird die Natur des Kriegers bekanntgegeben: So wie zuvor in Ninurtas Seele, so begannen auch im Heiligtum des Abzu die trüben Wasser der Nacht zu brodeln und zu schäumen. Minister Isimud stürzte eilends zum Tempel, doch Ninurta stieg aus eigenem Antrieb hinab in die Tiefe. Isimud hob währenddessen flehend seine Hände zum Schrein empor.
Die Erschaffung Šarurs
Aus dem Lehm des Abzu formte Enki ein geheimnisvolles Wesen. Tief unten, am verborgenen Tor des Abzu, vollendete er seine Schöpfung. An jenem Ort unheiliger Taten verkündete Enki mit mächtiger Stimme:
„Hier ist mein Werk vollendet und wird zum Leben erweckt. Das erschaffene Wesen steht bereit, mit Leib und Seele seine Bestimmung zu erfüllen.“
Ninurtas Erschrecken
Der Held Ninurta wich entsetzt zurück. Enki stellte sich unwissend und rief:
„Was ist das für ein Wesen? Es erwacht zum Leben!“
Die Kreatur scharrte wild mit ihrer Klaue über die Erde, schnell wie der Blitz und voller zerstörerischer Kraft. Als sie das Licht der Welt erblickte, flohen Mut und Entschlossenheit aus Ninurtas Herzen. Der große Held bettelte um sein Leben und sah keinen Ausweg aus seiner Not. Ungeduldig kratzte das Wesen mit seiner Klaue über den Boden.
Enkis Erläuterung
Da rief der große Herr Enki dem verzweifelten Ninurta zu:
„Aus der Unterwelt habe ich eine göttliche Macht heraufbeschworen und sie dir offenbart. Diese Waffe der Stärke, die meiner Machtsicherung dient, steht nun vor deinen Augen. Eine gewaltige Wandlung habe ich herbeigeführt. Ich hauchte ihr Leben ein und erfüllte sie mit Kraft. Deine Tränen zeigen mir, dass du ihre Macht anerkennst. Dies ist nun dein Los: Das Wesen wird dich führen. Gemeinsam werdet ihr die Wege gehen, die das Schicksal euch weist. Deine Kriegermacht wird fortan den göttlichen Kräften dienen und niemals vergehen.“
Die Beiträge Einzelner
Ninmenas Beitrag
Die alte Struktur von Ninurtas Stärke musste zerstört werden, damit sie auf neue Weise entstehen konnte. Ninurtas Beispiel zu folgen bedeutet, hinauszugehen in die Welt und neue Wege zu beschreiten. Ninmena erklärte die Aufgabe, die ihr dabei zufällt, so:
„Das äußere Gewand [einer Seele] wird in seine Einzelteile zerlegt, und die Sehnsüchte [der Seele] werden in Ton verewigt.“
Der Beitrag einer finsteren Macht
Das Schwerste immer wieder zu ertragen – wer verlieh dir diese Gabe? Menschenleben zu beenden – wer machte dich dazu fähig? Er ist weder ein Gefährte des Himmels noch ein Gefährte der Erde. Sein wahrer Name lautet: „Verschlinger der Zeit, der sie nicht mehr voranschreiten lässt“. [Er ist der personifizierte Tod.]
Enkis Beitrag
Doch dass du dennoch nicht eigenmächtig über Leben und Tod entscheiden kannst – wer hat dafür gesorgt?