Interpretation des Anzu Mythos

Häufig wird behauptet, dass Anzu von Enlil die Schicksalstafel gestohlen hatte, die das Schicksal der Menschen auf der ganzen Welt bestimmt. Dies ist jedoch falsch. Zu der Zeit, als der Mythos verfasst wurde, bestimmte die Schicksalstafel nicht das Schicksal der Menschen. Sie bestimmte die Riten und Schicksale der Igigi Götter.

Die Igigi waren den Anunnaki untergeordnet. Sie nahmen menschliche Gestalt an um die Riten auszuführen, die auf der Schicksalstafel niedergeschrieben waren. Sie waren keine wirklichen Götter, aber sie wurden für das Volk zu Göttern erhoben (laut dem Etana Mythos auf der Morgan-Tafel). Dies qualifizierte sie als Anführer des Volkes. Anzu stahl die Schicksalstafel, weil er die Kontrolle über die Igigi erlangen wollte.

Laut dem Mythos „Lugalbanda und der Anzu Vogel“ hatte Anzu zu diesem Zeitpunkt bereits die Aufgabe die Schicksale gewöhnlicher Menschen im Auftrage Enlils zu verfügen. Die Schicksalstafel brauchte er dafür nicht.

Nachdem Anzu die Schicksalstafel gestohlen hatte, baten die Anunnaki verschiedene Götter, gegen Anzu zu kämpfen, aber es stand den Göttern frei, das Unterfangen abzulehnen. Im Gegensatz dazu konnte der Igigi Ninurta die Mission nicht ablehnen. Da er ein Igigi war, wurde von ihm erwartet, dass er macht, was die Götter ihm auftrugen. Wie der Mythos „Ninurta und die Schildkröte“ darlegt, war Ninurta von Enki für diese Aufgabe gut vorbereitet gewesen: Er selbst konnte durch die Schicksalstafel nicht mehr direkt beeinflusst werden.

Nachdem Ninurta Anzu getötet hatte, war der Job von Anzu frei geworden, so dass Ninurta ihn bekommen konnte. Das bedeutet, dass er ab jetzt die Schicksale der Menschen verfügen durfte. Der Igigi Ninurta steigt somit vom Kriegsgott zum Schicksalsgott auf. Es wird jedoch angekündigt, dass er dies im Verborgenen tun wird: Die Menschen werden nicht wissen, dass Ninurta ihre Schicksale verfügt hat, sondern sie werden jeweils den Gott dafür preisen, an den sie glauben.