Der Huluppu Baum
Der Huluppu-Baum, später als Baum des Lebens bekannt, stammt aus der Unterwelt. Ereschkigal gab Enki den Samen als Symbol ihrer Vision: Der Baum sollte als Portal zwischen Unterwelt, Erde und Himmel dienen und, wenn er ausgewachsen ist, auserwählten Seelen ewiges Leben ermöglichen. Enki pflanzte ihn bei Eridu. Nach der Sintflut fand Inanna den entwurzelten Baum und brachte ihn nach Uruk. Dort bewohnten ihn drei Wesen: die Usumgallu-Schlange, der Anzu-Adler und Lilith. Jedoch ließ Inanna den Baum fällen bevor er vollständig ausgewachsen war.
Der Huluppu Baum
Ursprung des Huluppu-Baumes
Der Huluppu-Baum wird später in der christlichen Tradition als Baum des Lebens bezeichnet. Der Ursprung des Baums ist eng mit der Unterwelt verbunden. Zum Zeitpunkt der Gründung der ersten sumerischen Stadt Eridu um 5400 v. Chr., so berichtet der Mythos „Enki und Ereschkigal“, stieg Ereschkigal freiwillig in die Unterwelt hinab. Als ihr Zwillingsbruder Enki sie dort aufsuchte, erklärte sie ihm den tieferen Sinn ihrer Entscheidung:
„Ich bin hier, um sicherzustellen, dass alle, die nach der Essenz jenseits des Scheins suchen, sie suchen und finden werden, wenn sie nur bereit sind, ihre Seelen zu entblößen und umzugestalten.“
Ereschkigal wollte also als Herrscherin in der Unterwelt bleiben und den menschlichen Seelen dabei helfen, sich umzugestalten. Dabei geht es Ereschkigal nicht darum, die individuellen Seelen dauerhaft umzugestalten und zu transformieren – diese werden letztlich in der Unterwelt aufgelöst. Ihr Ziel ist es vielmehr, durch die Analyse der menschlichen Bewusstseine zu lernen, wie eine solche Transformation grundsätzlich möglich ist. Dieses Wissen ist der „verborgenen Schatz“, den sie in der Unterwelt gefunden hat, wie sie Enki erklärt:
„Wenn du mich kennst, wie du dich selbst kennst, glaube ich, dass du erkannt hast, dass ich zwar die Welten da oben vermisse, dass ich aber im Land ohne Wiederkehr verborgene Schätze gefunden habe und dass ich ihre wichtigste Hüterin geworden bin.“
Als Zeichen ihrer langfristigen Vision übergibt Ereschkigal Enki den Samen des Huluppu-Baums. Bei der Übergabe offenbart sie die künftige Bestimmung des Baums:
„Pflanze ihn ein und beobachte, was dabei herauskommt. Wenn dieser Same zu voller Größe heranwächst, wird er das Tor zu dieser und vielen anderen Welten sein. […] Derjenige, der meinen ausgewachsenen Samen findet und ihn hegt und pflegt, wird derjenige sein, der das Tor zu den Welten darunter und darüber weit offenhalten wird.“
Wenn der Baum seine volle Größe erreicht hätte, würde er somit als Portal dienen, durch das ausgewählte Seelen von der Unterwelt in den Himmel aufsteigen könnten, wo sie ewiges Leben erlangen würden. Diese Funktion macht ihn zum „Baum des Lebens“. Enki pflanzte den Samen am Ufer des Euphrat nahe Eridu und gab ihm dabei eine weitere Bestimmung:
„Mögen deine Zweige, Blätter und Früchte das Wissen weitergeben und uns die Wege des Werdens in allen Welten und Sphären zeigen. Mögen alle, die dich finden, zu den höchsten Höhen aufsteigen und zu den tiefsten Tiefen hinabsteigen, um Heilung und Frucht zu finden. Ich nenne dich den heiligsten, den kostbarsten aller Bäume, den Huluppu-Baum.“
Diese Schicksalsbestimmung enthält mehrere wichtige Aspekte: Enki stellt klar, dass die Früchte des Baums das Wissen symbolisieren, das die Götter den Menschen vermitteln wollen. Wie Ereschkigal bereits klargestellt hatte, sollte der Baum als Portal in verschiedene Welten dienen, die zu jener Zeit vermutlich noch gar nicht fertiggestellt waren. Dies suggeriert auch Enki: Mit jedem neuen Zweig, den der Baum entwickelt, werden weitere „Wege des Werdens“ offenbart. Zugleich macht Enkis Bestimmung deutlich, dass der Weg in diese Welten nicht allen Menschen offenstehen wird, sondern nur jenen, die den „Baum des Lebens finden“, was wahrscheinlich eine Metapher dafür ist, nach den Geboten der Götter zu leben. Dies wird jedoch erst in ferner Zukunft möglich sein, wenn der Baum ausgewachsen ist.
Eigenschaften des Baumes
Der Huluppu-Baum wird im Mythos „Inanna und der Huluppu-Baum“ als großer, prächtiger Baum mit einem geraden, unverzweigten Stamm beschrieben. Seine Erscheinung erinnert weniger an eine Pappel, wie er manchmal in Übersetzungen des Etana-Mythos genannt wird, sondern eher an einen der mittlerweile in Europa ausgestorbenen Mammutbäume. Um 3500 v. Chr. hatte der Baum bereits eine beachtliche Größe erreicht. Der Mythos „Enki und die Weltordnung“ beschreibt den Baum in seiner entwickelten Form:
„Du (Enki), der König, pflanztest den Meš-Baum im Abzu,
der aus der fernen Unterwelt emporgebracht wurde,
den mächtigen Dämon Eridus,
dessen Stamm Himmel und Erde vereint,
und dessen Früchte wie Weintrauben über dem Land Sumer herabhängen.“
Diese Beschreibung betont nicht nur die physische Größe des Baums, sondern auch seine Funktion als Verbindung zwischen den Welten und als Quelle göttlichen Wissens für die Menschen. Der Huluppu-Baum verkörpert in seiner Struktur die Verbindung der verschiedenen kosmischen Bereiche:
- Seine Wurzeln reichen in die Unterwelt, das Reich der Transformation
- Sein Stamm steht fest in der Mittelwelt, dem Bereich der Menschen
- Seine Krone wächst dem Himmel entgegen, dem Reich der Götter
Diese dreifache Gliederung macht ihn zur axis mundi – der Weltachse, die die verschiedenen Seinsbereiche durchdringt und verbindet. Wie Ereschkigal bei der Übergabe des Samens betonte, sollte der Baum „das Tor zu dieser und vielen anderen Welten sein“. Er funktioniert dabei nicht als bloße Verbindung, sondern als aktives Portal, durch das den Seelen der Unterwelt die Bewegung zwischen den Welten möglich wird. Wenn er seine volle Größe erreicht hat, können über ihn menschliche Seelen aus der Unterwelt in den Himmel aufsteigen und ewiges Leben erhalten. Diese Funktion machte ihn zum „Baum des Lebens“.
Die drei Bewohner des Baumes
Bei der Sintflut wurde der Baum in Eridu entwurzelt und trieb danach im Euphrat. Inanna fand ihn und brachte ihn zu sich nach Uruk. Nach seiner Neupflanzung in Uruk wurde der Baum von drei mythischen Wesen bewohnt:
- Die unbestechliche Usumgallu-Schlange an seiner Wurzel
- Der Anzu-Adler in seiner Krone
- Die dunkle Magd Lilith im mittleren Bereich
Jedes dieser Wesen hatte spezifische Aufgaben, die die Gesamtfunktion des Baums erweiterten und ihm in der frühen Phase der sumerischen Zivilisation eine zentrale Bedeutung verliehen. Durch die Präsenz der Lilith konnten sich Götter in menschlichen Körpern inkarnieren und als Herrscher direkt unter den Menschen wirken. In dieser Form vermittelten sie den Menschen Wissen und lehrten sie die Grundlagen der Zivilisation. Durch Anzu wurden die Schicksale der Menschen so verfügt, dass sie für die Projekte der Götter dienlich waren. Dies war besonders nach der Sintflut wichtig, als die sumerische Zivilisation wiederaufgebaut werden musste. Die Usumgallu-Schlange sicherte als Wächterin den Fortbestand des Baums und damit die Verbindung zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre.
Die Fällung des Baumes
Um 2600 v. Chr., zu Lebzeiten von Gilgamesch, hatte sich die sumerische Zivilisation bereits fest etabliert. Es kann vermutet werden, dass zu dieser Zeit die ursprüngliche Funktion des Huluppu-Baums als künftiges Portal zwischen Unterwelt und Himmel in Vergessenheit geraten ist. Was im kollektiven Gedächtnis blieb, war das Wissen um seine magische Natur und die Überzeugung, dass aus seinem Holz besondere Objekte gefertigt werden könnten.
Der Mythos „Inanna und der Huluppu-Baum“ beschreibt, wie Inanna die Entscheidung trifft, den Baum zu fällen. Sie bat zunächst vergeblich ihren Bruder Utu, den Gott der Gerechtigkeit, um Hilfe. Seine Weigerung deutet darauf hin, dass die Fällung des Baums als problematisch anzusehen war. Als sich Utu weigerte, wandte sich Inanna an Gilgamesch:
„Oh Gilgamesch, in den Tagen, als das Schicksal beschlossen war, als das Land im Überfluss erblühte, als die Gebiete der großen Götter aufgeteilt waren, da zog ich den Baum aus dem Euphrat, da pflanzte ich ihn in meinen heiligen Garten und pflegte ihn und wartete seitdem auf meinen glänzenden Thron und mein üppiges Bett.“
Inanna verheimlichte Gilgamesch somit die eigentliche Funktion des Baumes. Gilgamesch willigte daher ein den Baum zu fällen und schritt zur Tat. Die Fällung hatte weitreichende Folgen für die Bewohner des Baums. Der Mythos berichtet:
„Gilgamesch erschlug die Schlange, die sich nicht bezaubern ließ. Der Anzu-Vogel flog mit seinen Jungen in die Berge, und Lilith zertrümmerte ihr Haus und floh in die wilden, unbewohnten Gegenden.“
Die Vertreibung der Lilith unbewohnte Gegenden bedeutet, dass die Götter fortan nicht mehr die Möglichkeit hatten, sich mit ihrer Hilfe in menschliche Körper zu inkarnieren. Daher konnten die Götter fortan nicht mehr auf der Erde als Könige herrschen. Stattdessen mussten menschliche Könige die Herrschaft ausüben. Die Tötung der Usumgallu-Schlange beendete ihre Wächterfunktion, und der Adler Anzu musste sich eine neue Heimat suchen. Dies markierte das Ende einer Ära, in der die Götter direkt unter den Menschen wandelten.