Die Götter Sumers: Die Anunnaki und die Igigi
Die sumerischen Mythen kennen zwei Klassen von Göttern: Die Anunnaki und die Igigi. In diesem Abschnitt möchten wir die Lebensläufe der großen Götter nachzeichnen. Die Grundlage für unsere Analyse der Lebensläufe bildet die Chronologie der sumerischen Mythen, die in einem vorherigen Kapitel rekonstruiert worden ist.
Bedeutungen der Begriffe „Anunnaki“ und „Igigi“
Wie bei vielen sumerischen Begriffen ist auch der Begriff „Anunnaki“ selbsterklärend. Das Wort Anunnaki wird im Sumerischen als „da-nun-na-ke4-ne“ gelesen. Die Bedeutung des Begriffes leitet sich aus der Bedeutung der einzelnen Silben her:
- Das hochgestellte d am Wortanfang steht für das göttliche Determinativ diĝir (𒀭). In der Regel wird dieses Symbol nicht mitgelesen. Um sich die Bedeutung des Begriffes zu erschließen, muss es jedoch beachtet werden. Das Symbol bezeichnet in diesem Fall den Himmelsgott „An“ oder alternativ den Himmel der Götter.
- Die Silbe „a“ bezeichnet eine lebensspendende Substanz. In der Regel wird hiermit Wasser bezeichnet, aber in diesem Fall ist der Samen des An gemeint.
- Die Silbe „nun“ bedeutet „erhaben“. Es geht hier also um den erhabenen Samen des An.
- Die Silbe „na“ drückt die Zugehörigkeit zum eben beschriebenen Sachverhalt aus.
- Die Endung ke4-ne bezeichnet den Plural.
Der Begriff „da-nun-na“ bedeutet somit „Der, der dem erhabenen Samen des An entsprang“. Die Anunnaki sind somit diejenigen, die dem erhabenen Samen des An entsprungen sind. Man kann auch sagen: Die Anunnaki sind die Mitglieder des erhabenen Volkes von An. Die Zugehörigkeit zu den Anunnaki ist laut Definition erblich und unveränderlich: Ein Gott, dessen Eltern zu den Anunnaki zählen, gehört ebenfalls von Geburt an zu dieser Gruppe. Eine spätere Aufnahme in diesen Kreis ist nicht möglich.
Obwohl der Begriff alle Mitglieder des Volkes von An umfasst, bezieht er sich in den Mythen und im Rest dieses Textes vorrangig auf jene Gottheiten, die aktiv die Geschicke der Erde lenken und über das Schicksal der Menschen bestimmen.
Neben den Anunnaki existiert eine zweite Göttergruppe: die Igigi. Während der Begriff „Igigi“ erst in akkadisch-babylonischen Texten direkt belegt ist, verwenden sumerische Quellen Umschreibungen wie:
- „diĝir-šeš“ (die göttlichen Brüder)
- „dnun-gal-e-ne“ (die erhabenen Großen)
Besonders aufschlussreich ist die zweite Bezeichnung: Sie ähnelt strukturell dem Begriff für die Anunnaki, verzichtet jedoch auf jeden Hinweis auf eine biologische Abstammung von An. Dies unterstreicht den fundamentalen Unterschied zwischen beiden Göttergruppen – die Anunnaki definieren sich durch ihre Verwandtschaft mit An, die Igigi durch ihre fehlende Verwandtschaft mit ihm.
Wer waren die Anunnaki?
Die Anunnaki sind die obersten Götter des sumerischen Pantheons und spielen eine zentrale Rolle in der mesopotamischen Mythologie. Als höchste Entscheidungsträger bestimmen sie die Geschicke der Menschen, wachen über die Ordnung der Welt und lenken die Entwicklung der menschlichen Zivilisation. Sie zeichnen sich insbesondere durch zwei zentrale Eigenschaften aus: Unsterblichkeit und Allwissenheit.
Ihre Unsterblichkeit wird im Mythos „Enki und Ereschkigal“ explizit thematisiert, als Enki feststellt:
„Bis jetzt habe ich nicht über den Tod nachgedacht. Ich wusste, dass er etwas ist, das den Lebenden widerfährt, den Menschen, Pflanzen und Tieren gleichermaßen, aber nicht den Anunnaki.“
Die Allwissenheit der Anunnaki wird besonders im Mythos „Nanna und Ningal“ deutlich, wo sie als „die großen Götter die alles wissen“ beschrieben werden. Diese Allwissenheit zeigt sich auch in praktischen Situationen, etwa als Ningal und Nanna ihre Liebe geheim zu halten versuchten:
„Plötzlich verstand Ningal alles und ihr Gesicht wurde noch heißer. Nichts, was in allen Welten geschah, konnten die großen Götter nicht wissen. Sie wussten von Nanna und ihr.“
Abgrenzung zu anderen göttlichen Wesen
Die Anunnaki sind klar von den Igigi zu unterscheiden, einer anderen Gruppe göttlicher Wesen. Während die Anunnaki die obersten Entscheidungsträger sind und die grundlegenden Ziele bestimmen, waren die Igigi ihnen untergeordnet und für die praktische Ausführung göttlicher Aufgaben zuständig. Dies wird im Atrahasis Epos deutlich ausgedrückt: Die Anunnaki ließen die Igigi die Arbeitslast tragen.
Die wichtigsten Anunnaki
Die Anunnaki lassen sich in zwei Ebenen einteilen. Zur obersten Ebene gehören die ursprünglichen Anunnaki, die bereits vor der Gründung der sumerischen Zivilisation existierten und die fundamentale Ordnung der Welt verkörpern: An als Himmelsgott, Ninhursag als Erdmutter, Enlil als Herr der Luft, Enki als Herr des Süßwassers und der Weisheit, sowie Ereschkigal als Herrscherin der Unterwelt. Diese Götter werden im Atrahasis Epos als die Götter genannt, die die wichtigsten Entscheidungen treffen. Eine Ausnahme bildet hier Ereschkigal, die zwar den Status eines Anunnaki hat, aber nicht die Geschicke der Lebenden lenkt, sondern für die Schicksale der menschlichen Seelen in der Unterwelt zuständig ist.
Zur zweiten Ebene gehören bedeutende Nachkommen der ersten Ebene: Nanna (Sohn von Enlil), sowie Inanna und Utu (Kinder von Nanna). Jeder dieser Götter hat spezifische Aufgaben bei der Lenkung der menschlichen Geschicke: Nanna verleiht dem Mond seine mythologischen Eigenschaften, die den Gläubigen zu Wohlstand verhelfen können. Inanna beeinflusst die Herrscher Sumers direkt, während Utu als Gott der Gerechtigkeit täglich mit der Sonne über den Himmel reist und dabei alles beobachtet, was die Menschen tun – eine Manifestation der Allwissenheit der Anunnaki.
Daneben gibt es weitere Anunnaki, die in den Mythen weniger prominent sind, wie etwa Ningikuga, die Göttin des Schilfs und Mutter von Ningal.
Kernaufgaben der Anunnaki
Die Hauptaufgaben der Anunnaki werden in verschiedenen Mythen beschrieben. Im Mythos „Nanna und Ningal“ werden sie charakterisiert als
„die Wächter des Landes, die Beschützer der Ordnung und des Gleichgewichts, die geistige Nahrung für alle Lebenden.“
Diese zentrale Rolle wird auch im Mythos „Enki und die Weltordnung“ betont: „Haus Sumer, mögen die Anunnaki Götter die Geschicke in deiner Mitte lenken.“ Besonders wichtig ist ihre Rolle als Schicksalsbestimmer, was sowohl im „Atrahasis Epos“ als auch im „Etana Mythos“ hervorgehoben wird.
Die Anunnaki übernehmen dabei vielfältige Aufgaben für das Funktionieren der Welt: Sie sorgen für die Fruchtbarkeit des Landes und die Vermehrung aller Lebewesen. In gesellschaftlicher Hinsicht sind sie verantwortlich für die Weitergabe von Wissen und handwerklichen Fertigkeiten, und die Bewahrung der Ordnung durch Rechtsprechung. Für die Erfüllung ihrer Aufgaben nutzen sie spezielle göttlichen Kräfte (Me), mit deren Hilfe sie das Verhalten der Menschen beeinflussen und so das Fundament der menschlichen Zivilisation legen. Sie greifen auch direkt in politische Entscheidungen ein, indem sie Könige einsetzen und die Beziehungen zwischen den Städten regulieren.
Die Anunnaki verkörpern damit ein komplexes Götterbild: Als Schöpfer und Beschützer, aber auch als strenge Wächter der Ordnung, nutzen sie ihre Allwissenheit und Unsterblichkeit, um aktiv in menschliche Angelegenheiten einzugreifen und die Geschicke der Zivilisation zu lenken.
Die umgerechneten Lebensalter der Anunnaki
Grundkonzept der Altersdarstellung
Die Anunnaki werden in den sumerischen Mythen durchgehend in Menschengestalt dargestellt – als junge oder alte Männer und Frauen, die essen, trinken, lieben und streiten. Für ein tieferes Verständnis der Mythen ist es daher wichtig zu wissen, in welchem menschlichen Alter man sich die jeweiligen Götter bei bestimmten Ereignissen vorstellen muss. Die wichtigsten Anhaltspunkte hierfür liefern die Genealogie der Götter und die Datierung der Handlungen der Mythen, in denen sie geboren wurden. Auf diese Weise lässt sich das mythologische Alter der Götter näherungsweise in menschliche Lebensjahre umrechnen.

Hierbei ist eine wichtige Unterscheidung zu treffen: Wenn beispielsweise der Gott An um 2000 v. Chr. auf 85 Jahre geschätzt wird, bedeutet dies, dass man ihn sich in Mythen, deren Handlung zu dieser Zeit spielt, als 85-jährigen Mann vorstellen sollte. Dies bedeutet jedoch nicht, dass er tatsächlich 85 Jahre vorher geboren wurde.
Besonderheiten der göttlichen Alterung
Da die Anunnaki im Gegensatz zu den Menschen unsterblich sind, ist eine Umrechnung in ein menschliches Alter nur unter einer besonderen Annahme möglich: Je älter ein Gott wird, desto langsamer altert er. Diese verlangsamte Alterung führt dazu, dass die Altersunterschiede zwischen den Göttern über die Zeit abnehmen. Während die Götter um 5000 v. Chr. noch deutlich verschiedene Altersstufen repräsentieren, erscheinen die Altersunterschiede derselben Götter um 2000 v. Chr. bereits merklich geringer.
Die Alterskurven der Götter
Die Götter der obersten Ebene – An, Ninhursag, Enlil, Enki und Ereschkigal – werden von Beginn der mythologischen Zeitrechnung an als gereifte Persönlichkeiten dargestellt. Ihre Alterskurven beginnen bei etwa 20-35 Jahren und steigen über die Jahrtausende langsam auf 75-85 Jahre an.
Die Götter der zweiten Ebene treten später in der Mythologie in Erscheinung. Nanna, der Sohn von Enlil, wird zunächst als junger Mann dargestellt und entwickelt sich von etwa 20 auf 65 Jahre. Seine Kinder Inanna und Utu erscheinen noch später in den Mythen und bleiben entsprechend die jüngsten der Anunnaki.
Auch Ninurta wurde in die Grafik aufgenommen. Ninurta ist kein Anunnaki, sondern ein Igigi. Da in der sumerischen Mythologie ein hohes Alter mit einem hohen Status gleichgesetzt wird und Ninurta als Igigi keinen so hohen Status wie die Anunnaki erreichen kann, bleibt er jünger: seine Alterskurve verläuft flacher.
Mythologische Diskontinuitäten
Eine bemerkenswerte Diskontinuität zeigt die Alterskurve des Gottes Marduk, der zwar kein Anunnaki ist, aber für das Verständnis der mythologischen Entwicklung wichtig erscheint. Seine Kurve weist um 1700 v. Chr. einen dramatischen Sprung auf, der mit dem Erscheinen des babylonischen Schöpfungsmythos Enuma Elish zusammenfällt. In diesem Text wird Marduk eine zentrale Rolle in der Schöpfungsgeschichte zugeschrieben, wodurch sein mythologisches Alter plötzlich deutlich nach oben korrigiert wurde.
Die Anunnaki im Einzelnen
Der Gott An
An ist der höchste Gott des sumerischen Pantheons, Himmelsgott und Vater vieler Götter. Trotz seiner obersten Position greift er selten direkt ins Erdgeschehen ein und bleibt meist distanziert. Mythologisch war er Gemahl der Erdgöttin Ninhursag und zeugte Enlil. Nach dem Verlust seines Tempels E-ana an Inanna büßte er irdischen Einfluss ein. An fungiert als oberste Autorität in Krisen und Wächter der kosmischen Ordnung, war aber möglicherweise kein realer Founder, sondern ein theologisches Konstrukt zur Legitimation der göttlichen Hierarchie.

Die Göttin Ninhursag
Ninhursag gehört zur obersten Ebene der Anunnaki und ist eine der mächtigsten sumerischen Göttinnen. Als Erdgöttin und „Mutter allen Lebens“ reguliert sie Lebensprozesse von Fruchtbarkeit bis zur Bewusstseinsentwicklung. Ihre Titel umfassen Ki (Erde), Aruru (Schöpferin), Belet-ili und Mami (Muttergöttin). Mythologisch erschuf sie mit Enki die Lebensbedingungen, entwickelte das menschliche Bewusstsein weiter und wirkte als Heilerin. Nach der Sintflut führte sie neue Regulationsmechanismen für das Bevölkerungswachstum ein.

Der Gott Enlil
Enlil ist der oberste Gott der Anunnaki auf der Erde und legitimer Nachfolger seines Vaters An. Vom Ekur-Tempel in Nippur aus verwaltet er Ressourcen und organisiert große Infrastrukturprojekte wie das Kanalsystem. Als autoritärer Herrscher ist er Oberbefehlshaber der Igigi und greift zu drastischen Mitteln wie Seuchen und der Sintflut zur Bevölkerungskontrolle. Er trennte Himmel und Erde, etablierte das Königtum und schuf das erste Finanzsystem. Als Founder plante er systematisch die Entwicklung der sumerischen Zivilisation durch Verwaltungsstrukturen.

Der Gott Enki
Enki gehört zu den fünf ursprünglichen Anunnaki und ist Gott der Weisheit und des Süßwassers. Von seinem Tempel E-abzu in Eridu aus fördert er Handwerk, Kunst und Wissenschaft. Als weiser Berater Enlils und wohlwollender Helfer der Menschen machte er mit Ninhursag die Erde fruchtbar und gab den Menschen mehr Intelligenz. Er rettete die Menschheit vor der Sintflut durch Atrahasis. Nach dem Verlust der göttlichen Kräfte (Me) an Inanna verlor seine Stadt Eridu an Bedeutung. Als Founder vermittelte er Wissen durch direkte Unterweisung und Träume.

Die Göttin Ereschkigal
Ereschkigal gehört als Zwillingsschwester Enkis zu den fünf ursprünglichen Anunnaki. Als Herrscherin der Unterwelt transformiert sie die Seelen aller Verstorbenen. Sie stieg freiwillig in die Unterwelt hinab, um diese Aufgabe zu übernehmen. Die Unterwelt ist für sie ein „Reich der Essenz“, wo Leben und Tod ineinander übergehen. Sie gab Enki den Samen des Huluppu-Baums als Verbindung zwischen den Welten. Als Founder entwickelte sie vermutlich frühe Techniken zur Bewusstseinsextraktion und -analyse in einer Art virtuellen Realität.

Der Gott Nanna
Nanna ist der erstgeborene Sohn von Enlil und Ninlil und gehört zur zweiten Ebene der Anunnaki. Als Mondgott reist er nachts mit dem Mond und synchronisiert die Lebenszyklen mit den Mondphasen. Er beeinflusst Menschen durch Träume – belohnt Gehorsam mit schönen Träumen und bestraft Verstöße mit Alpträumen. Von seinem Haupttempel in Ur aus bringt er die Stadt zur Blüte. Als Vater von Inanna und Utu etablierte er Ordnung durch die Mondzyklen. Als Founder entwickelte er Methoden zur Verhaltenssteuerung durch Traumbeeinflussung.

Die Göttin Inanna
Inanna war Göttin der sexuellen Begierde und des Krieges und Schutzpatronin von Uruk. Sie ging sehr strategisch vor um ihr Ziel, Uruk zu einer Metropole auszubauen, zu erreichen: Sie motivierte die Menschen sich zu vermehren und verwendete deren Nachkommen dann als Krieger um die Grenzen der Stadt zu erweitern. Ihre vielschichtige Persönlichkeit reichte von der verführerischen Liebhaberin bis zur rachsüchtigen Kriegerin. Bekannt wurde sie durch mythologische Coups wie der Entwendung der göttlichen Kräfte (Me) von Enki und die Etablierung der „Heiligen Hochzeit“ als Legitimation ihrer Herrschaft.

Der Gott Utu
Utu ist der Sohn von Nanna und Ningal und gehört zur zweiten Ebene der Anunnaki. Als Sonnengott und Gott der Gerechtigkeit reist er täglich über den Himmel und überwacht die Erde. Seine Hauptaufgabe ist die Rechtsprechung zwischen Menschen und Göttern. Er steht den Menschen besonders nahe und verteidigt ihre Rechte gegen andere Götter. Im Gilgamesch-Epos hilft er den Helden trotz Enlils Widerstand. Sein Haupttempel steht in Sippar. Er überbrachte den Kodex Hammurabi. Als Founder entwickelte er das Rechtssystem zum Schutz der Menschen.

